Agiles Mindset: Warum es vielen so schwerfällt

agiles Mindset

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Seit Agilität in der Unternehmenswelt Einzug gehalten hat, begegnet mir als Agile Coach eine Beobachtung immer wieder: Es wird viel über Scrum, Kanban und Sprints gesprochen – aber erstaunlich wenig über das, was die eigentliche Grundlage für echte Agilität ist: das agile Mindset.

„Agilität beginnt im Kopf – nicht im Framework.“

Denn Agilität ist keine Methode. Es ist eine Haltung. Eine Denkweise. Und während sie für manche fast natürlich wirkt, stellt sie für andere eine echte Herausforderung dar. Warum ist das so? Was genau steckt hinter dem Begriff „agiles Mindset“ – und wie kann man es entwickeln?

Was bedeutet agiles Mindset?

Ein agiles Mindset beschreibt eine innere Haltung, die auf Offenheit, Lernbereitschaft, Verantwortung und Zusammenarbeit basiert. Es wurzelt in den Werten und Prinzipien des Agilen Manifests und ist geprägt durch:

    • Lernorientierung statt Perfektionismus

    • Flexibilität statt Starrheit

    • Kundenzentrierung statt Selbstdarstellung

    • Selbstverantwortung statt Abwarten

    • Vertrauen statt Kontrolle

Ein agiles Mindset erkennt an, dass die Welt komplex ist – und dass wir durch Ausprobieren, Lernen und Anpassen bessere Ergebnisse erzielen als durch starre Planung. Es ist damit die mentale Grundlage jeder echten agilen Transformation.

Was verhindert ein agiles Mindset?

Ein nicht-agiles oder „fixes“ Mindset ist oft durch alte Denkmodelle geprägt:

    • Der Wunsch nach Planbarkeit und Kontrolle

    • Die Angst vor Fehlern

    • Fokus auf Hierarchien und Status

    • Misstrauen gegenüber Selbstorganisation

In der Praxis zeigt sich das z. B. durch Mikromanagement, langwierige Abstimmungsschleifen oder durch Aussagen wie „So haben wir das immer gemacht.“

Projektplan Gantt Chart

 

Oft wird an starren Projektplänen festgehalten.

Warum fällt vielen der Wandel zu einem agilen Mindset so schwer?

Ein agiles Mindset verlangt etwas, das nicht selbstverständlich ist: Selbstreflexion, emotionale Sicherheit und Veränderungsbereitschaft. In vielen beruflichen Kontexten – und oft schon im Bildungssystem – sind jedoch ganz andere Muster verankert:

    • Fehler gelten als Schwäche

    • Planung wird mit Kompetenz gleichgesetzt

    • Verantwortung liegt bei „oben“

    • Lernen passiert in Trainings, nicht im Alltag

Diese Denkweise wird oft unbewusst übernommen – und prägt das tägliche Handeln stärker, als uns lieb ist. Begriffe wie „Selbstorganisation“, „Iteration“ oder „Feedbackkultur“ wirken auf viele nicht wie Befreiung, sondern wie Kontrollverlust. Wer jahrelang für „richtiges Funktionieren“ belohnt wurde, erlebt Agilität als Zumutung.

Dazu kommt: In vielen Unternehmen sind strukturierte Prozesse, langfristige Planung und klar definierte Verantwortlichkeiten fest verankert. Und das ist per se nicht schlecht – im Gegenteil. Gute Planung und klare Abläufe geben Orientierung und Stabilität. Aber sie werden häufig so absolut gesetzt, dass Abweichungen als Fehler gelten, statt als Chance zur Anpassung.

In einem solchen System ist kein Raum für Experimente – weder kulturell noch praktisch. Wer etwas ausprobiert und scheitert, riskiert Image oder Karriere. Wer Fragen stellt, gilt als unsicher. Und wer sagt „Ich weiß es noch nicht“, wird schnell übergangen. Das alles wirkt wie ein Schutzmechanismus gegen das agile Denken.

Ein agiles Mindset hingegen braucht die Bereitschaft, Dinge nicht komplett zu wissen, sondern im Tun zu lernen. Es setzt voraus, dass Pläne flexibel sind, dass Veränderungen willkommen sind, und dass man sich selbst nicht als „fertig“ begreift. Genau diese Haltung aber fehlt dort, wo Systeme auf Vollständigkeit, Kontrolle und Absicherung beruhen.

Das macht es so schwer: Nicht nur Menschen müssen umlernen – auch die Systeme, in denen sie arbeiten, müssen sich ändern. Und diese Veränderung beginnt nicht in Tools oder Rollen, sondern im gemeinsamen Umgang mit Unsicherheit und Verantwortung.

Und warum fühlt sich agiles Denken für andere ganz natürlich an?

Für manche Menschen – mich eingeschlossen – fühlt sich das agile Mindset fast intuitiv an. Ich bin neugierig, nicht wissensstolz. Ich glaube an die Kraft von Teams, nicht an Einzelgenies. Veränderung empfinde ich als Gestaltungsraum, nicht als Bedrohung.

Diese Haltung fällt nicht vom Himmel. Sie wird geprägt – durch Bildung, Erfahrungen, Vorbilder. Wer gelernt hat, dass Fehler zum Lernen dazugehören, tut sich leichter mit Agilität. Wer immer nur für richtiges Funktionieren belohnt wurde, hat’s schwerer. Aber: Veränderung ist möglich – für jede:n.

traditionelles vs agiles Mindset

Wie entwickelt man ein agiles Mindset?

Ein agiles Mindset lässt sich nicht verordnen. Es entsteht durch Erfahrungen, durch Reflexion, durch Training – und durch bewusste Entscheidungen im Alltag. Ob Führungskraft, Team oder Einzelperson: Jeder Mensch kann zu einer lernenden, beweglichen Haltung finden. Entscheidend ist, dass Organisationen Raum dafür schaffen – und Begleitung zulassen. Hier vier Perspektiven:

🧑‍💼 Was Führungskräfte tun können

Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung eines agilen Mindsets. Ihr Verhalten gibt den Ton vor – und entweder ermutigt es Menschen zu Eigenverantwortung oder es verunsichert sie.

Statt sich als „Entscheider:innen“ zu inszenieren, können Führungskräfte sich als Rahmengeber:innen verstehen. Sie setzen klare Ziele, lassen aber offen, wie Teams diese erreichen. Sie zeigen sich menschlich, indem sie eigene Fehler offen ansprechen und daraus lernen. Das schafft Vorbilder und baut Hierarchien ab, die Lernprozesse blockieren.

Besonders wichtig: Führungskräfte sollten Fragen stellen, statt Antworten vorzugeben. Ein einfaches „Was denkt ihr?“ öffnet oft mehr Räume als jede Präsentation. Lernformate wie „Lunch & Learn“-Sessions, interne Barcamps oder Shadowing können gezielt das Lernen im Alltag fördern. Und sie signalisieren: Lernen ist Teil der Arbeit – nicht nur Kür.

👥 Was Teams tun können

Ein Team ist der Ort, an dem das agile Mindset sich zeigt – oder verschwindet. Hier wird Zusammenarbeit gestaltet, hier werden Fehler gemacht und gemeinsam gelöst, hier wird offen (oder eben nicht) miteinander gesprochen.

Retrospektiven sind ein zentrales Werkzeug, um Lernen zu ermöglichen. Sie sollten nicht zur Routine verkommen, sondern echte Reflexionsräume bleiben. Teams, die sich trauen, auch unbequeme Themen anzusprechen, entwickeln Vertrauen – und genau das ist die Basis für agiles Denken.

Kleine, bewusste Experimente – etwa eine neue Meetingstruktur oder ein geänderter Entscheidungsprozess – machen Lernprozesse sichtbar. Wer danach gemeinsam reflektiert, stärkt das Wir-Gefühl und die Lernkultur.

Transparenz ist ein weiterer Schlüssel: Wer offen zeigt, woran er arbeitet, was ihn blockiert, und was gerade wichtig ist, fördert Abstimmung und Verlässlichkeit. Unterstützend wirken sogenannte „Team Agreements“ – bewusst gestaltete Vereinbarungen darüber, wie das Team miteinander umgeht, wie Entscheidungen getroffen oder Fehler kommuniziert werden.

🧍 Was jede:r Einzelne tun kann

Ein agiles Mindset beginnt bei der eigenen Haltung. Und das Gute ist: Jede:r kann heute damit anfangen. Zum Beispiel mit einer simplen Reflexionspraxis – etwa drei Minuten täglich, in denen man sich fragt: Was habe ich heute gelernt? Wo war ich flexibel? Wo habe ich festgehalten, obwohl ich loslassen wollte?

Neugier ist ein zentraler Treiber für agiles Denken. Wer Fragen stellt, statt vorschnell zu bewerten, entdeckt mehr – über andere und über sich selbst. Auch Zuhören ist ein unterschätzter Schlüssel: Wirklich verstehen zu wollen, bevor man antwortet, öffnet Perspektiven.

Viele agile Prinzipien lassen sich ganz einfach im Alltag üben – etwa indem man bewusst den Perspektivwechsel sucht, bei Unsicherheit nicht auf Autorität hofft, sondern Initiative zeigt, oder anderen hilft, ohne dafür etwas zu erwarten.

Der vielleicht wichtigste Schritt: den eigenen Umgang mit Fehlern zu überdenken. Wer sich traut, Fehler sichtbar zu machen – sei es in einem Meeting oder im Gespräch mit Kolleg:innen –, lädt andere ein, es ebenso zu tun. Und das ist der Beginn echter Lernkultur.

🧑‍🏫 Wie Agile Coaches unterstützen

Ein Agile Coach ist kein Tool-Spezialist, der Scrum richtig einführt (okay, kann ich auch). Vielmehr ist er oder sie ein Gestalter von Lernräumen, ein Spiegel für eingefahrene Muster – und ein Sparringspartner für Entwicklung.

In der Praxis bedeutet das: Agile Coaches beobachten Teams, benennen Muster, stellen unbequeme, aber ehrliche Fragen – und helfen dabei, neue Formen der Zusammenarbeit zu testen. Sie moderieren Retrospektiven und Workshops so, dass nicht nur Methoden vermittelt, sondern auch Haltungen reflektiert werden.

Führungskräfte begleitet ein Coach dabei, sich von alten Steuerungsmechanismen zu lösen – und in eine Rolle zu finden, die Vertrauen schenkt, statt Kontrolle auszuüben. Vor allem aber schaffen Coaches Sicherheit: Sie sind da, wenn Experimente schiefgehen, wenn Zweifel auftauchen oder wenn Teams an ihrer Veränderung zu scheitern drohen.

Agile Coaches helfen, das unsichtbare Fundament zu legen, auf dem agile Frameworks erst tragfähig werden: Haltung, Reflexion, Mut und gemeinsames Lernen.

Typische Antipatterns – Wenn agiles Mindset nur Fassade bleibt

Nicht jede Organisation, die „agil arbeitet“, lebt auch ein agiles Mindset. In meiner Arbeit sehe ich häufig Verhaltensmuster, die Agilität nur simulieren – und damit wirkungslos machen:

Manager behauptet er sei agil

Scrum ohne Haltung

Typische Scrum Meetings wie Dailys, Plannings und Retros laufen (mechanisch) – aber echte Eigenverantwortung fehlt. Entscheidungen kommen von außen, Teams fühlen sich fremdgesteuert. Dieses Verhalten sehen wir sehr oft in der Praxis, doch fällt es den Beteiligten anfangs selbst nicht auf oder sie trauen es sich einfach nicht anzusprechen.

Hier ist das Framework da – aber die Haltung fehlt.

Um einem solchen Verhalten entgegenzuwirken und das Problem zu beheben, bietet sich unser Pimp My Scrum Events Format an.

Pseudo-Feedback

Feedback wird formal eingeführt – aber niemand sagt wirklich etwas. Kritik wird beschönigt oder vermieden, echte Reflexion bleibt aus.

Ohne Vertrauen bleibt Feedback eine Pflichtübung.

Mikromanagement in agilem Gewand

Führungskräfte kontrollieren in Dailys und mischen sich in jedes Task-Board ein. Teams spüren: Wir dürfen nichts ausprobieren.

Agilität ohne Vertrauen ist nur Theater.

Agilität nur in der IT

Der Rest der Organisation bleibt klassisch, die Silos bestehen. Agilität wird zur Insellösung ohne Kulturwandel.

Ohne systemische Transformation bleibt Agilität Stückwerk.

Agile Coaches als Toolverwalter

Erwartung: Der Coach bringt „Scrum richtig zum Laufen“ und ist JRA-Admin. Haltung, Zusammenarbeit, Lernräume? Nicht gefragt.

Wer den Coach zum Admin degradiert, verschenkt Potenzial.

Fazit: Agiles Mindset ist kein Tool – es ist ein Weg

Ein agiles Mindset ist kein Werkzeug oder Zustand. Es ist ein Weg – individuell, aber auch kollektiv. Es beginnt mit Fragen statt Antworten, mit Lernbereitschaft statt Rechthaberei. Und es braucht Räume, Mut und Reflexion.

Ob als Führungskraft, Team oder Einzelperson: Jede:r kann diesen Weg gehen. Und je klarer wir erkennen, dass Agilität eine Haltung ist – desto mehr verändert sie unser Arbeiten und unser Miteinander.


Wir begleiten euch auf eurem Weg zur agilen Organisation.

Über die Autorin dieses Beitrags:

Beatrix Gottanka von der Agilistas GmbH aus Linz

Hallo, ich bin Beatrix Gottanka – diplomierte Software Engineerin, zertifizierte Professional Scrum Masterin und seit über 15 Jahren mit echter Scrum-Praxis unterwegs.

Gerne helfe ich Dir und Deinem Team euer volles Potential mit einer agileren Haltung zu entdecken und auszuschöpfen.

-> Mehr über mich


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